Ganz schön herausfordernd diese Aggressionen, die Ihnen mit Ihrem Kind zurzeit begegnen. Da werden einem Aussagen wie „du Kuh“, „ich hasse dich“ und noch unschönere Dinge um die Ohren geschlagen. Die verbalen Entgleisungen Ihres Kindes kommen im Moment häufig vor. Manchmal bleibt es nicht dabei, Ihr Kind schlägt und kratzt Sie und wird auch oft handgreiflich gegenüber seinen Geschwistern. Es scheint wenig nötig zu sein, damit die Situationen eskalieren. Bei der Frage, welcher Funke die Situation zum Zünden bringt, sind Sie ratlos.
Was macht das mit Ihnen?
Oft erzählen mir Eltern von aggressiven Kindern von ihrer Hilflosigkeit. Sie probieren verschiedene Erziehungstipps aus – nichts scheint zu nützen. Die Situationen laufen aus dem Ruder, sie erleben sich selbst in der Rolle als Vater oder Mutter nicht mehr als selbstwirksam. Sie fühlen sich sehr abgewertet und nicht respektiert. Manchmal gesellt sich noch die eigene Wut dazu, und sie schaukeln sich gegenseitig in die nächste Eskalationsstufe.
Was könnte die Botschaft hinter diesem herausfordernden Verhalten sein?
Dieser Blick auf die möglichen Gründe und die Einladung zur Entwicklung stammen von Maria Aarts, der Begründerin der Marte Meo-Methode. Mit dieser entwicklungsorientierten Methode arbeite ich als Therapeutin seit mehreren Jahren. Themen, die mir als Begabungsexpertin in der Begleitung von Kindern und Eltern oft begegnen, sind die Hochbegabung (hohes Potenzial), die Hochsensibilität und Schwierigkeiten mit der Gefühlsregulierung. Im Folgenden beleuchte ich diese verschiedenen Hintergründe und wie damit umzugehen ist.
Hochsensible Kinder und starke Gefühle
Intensive Gefühle gehören zu den Grundmerkmalen der Hochsensibilität. Viele hochsensible Menschen fallen auch durch ihre besondere emotionale Sensitivität auf. Diese zeigt sich in komplexen Emotionen, intensiven Gefühlen, Empathie, Verbundenheit, Mitgefühl. Diese Qualitäten können allerdings auch zu Schwierigkeiten führen, wie Überreaktion, Wut, Traurigkeit, Tränen, Herausforderungen mit der Ich-/Du-Entwicklung, Abgrenzung.
Das kann sich z.B.so zeigen:
Mia (7-jährig, erfundenes Fallbeispiel) ist in der Schule ein sehr zurückhaltendes Kind, den Lehrpersonen fällt sie als sehr angepasst auf. Mia äussert sich in der Schule nicht allzu häufig, sie weiss, was zu tun ist, ohne viele Informationen der Lehrpersonen. Es ist ihr wichtig, sich an die Regeln zu halten, und sie möchte gefallen. Für Mia erfordert das eine hohe Anpassungsleistung, es fällt ihr schwer, sich abzugrenzen. Zu Hause zeigt sich ein ganz anderes Kind: Mia reagiert aggressiv und wird schnell wütend, hier lässt sie Dampf ab.
Hochsensible Kinder können in zwei grundlegende Typen unterschieden werden:
- in den Hypo-Typus
Dieser fällt mit folgenden Merkmalen auf: Er ist zurückhaltend, nimmt alles in sich auf, hat perfektionistische Tendenzen, zeigt seine Gefühle nicht offen, leidet unterschwellig, hat psychosomatische Symptome.
- und in den Hyper-Typus
Er ist impulsiv bis explosiv, hat Gefühlsschwankungen und jähzornige Gefühlsausbrüche, ist aggressiv, verzweifelt schnell, überdreht.
Wie das Beispiel von Mia zeigt, können sich beide Aspekte in unterschiedlichen Situationen zeigen.
Wie können Sie Ihr hochsensibles Kind in der Familie stärken?
Selbstvertrauen aufbauen
Zurück zu unserem Beispiel: Mia verhält sich in der Schule sehr zurückhaltend, es scheint, als ob es für sie nicht ganz einfach ist, bei sich zu bleiben und sich zu ihren Bedürfnissen zu äussern. Vermutlich erlebt sie sich dabei oft hilflos und ihre Bedürfnisse sind für die Lehrpersonen schwierig zu erkennen. Wenn Mias Selbstvertrauen in der Familie aufgebaut werden könnte, würde sich auch ihre Situation in der Schule verbessern. Aus Sicht der Marte Meo-Methode eignen sich hierzu insbesondere Situationen, in denen Mia ihren Ideen und Projekten nachgehen kann. Als Eltern sind aufmerksam dabei und verbalisieren das, was Mia tut, denkt oder fühlt. Dieses Vorgehen hat verschiedene Effekte: Mia kann eigene Ideen entwickeln und vertraut diesen mehr und mehr, ihr Selbstvertrauen wird gestärkt, sie wird auf ihrem individuellen Lernweg aktiviert, kann so Problemlösefertigkeiten entwickeln, auch für die schwierigen Situationen in der Schule, und sie fühlt sich wahrgenommen. Ein weiterer wichtiger Punkt scheint die Begleitung der Gefühle zu sein, damit Mia lernt, gut mit ihren Gefühlen umzugehen.
Gefühle begleiten
- Kinder wie Mia zeichnen sich durch intensive Gefühle aus, auch Überreizung kann sie in Rage bringen. Für diese Kinder ist es sehr hilfreich, zu lernen, besser mit ihren Gefühlen umzugehen. Das kann über das Verbalisieren (wert- und urteilsfrei) der Gefühle der Kinder geschehen, oft helfen dabei auch emotionale Töne. Beobachten Sie Ihr Kind, ob es besser auf «du bist wütend» (oder auch nervös, verärgert, angestrengt etc.) anspricht oder eher auf einen Ton wie «mmh, ääh, grrr» (passend zu den Gefühlen des Kindes, in seiner Gesichtsmimik lassen sich diese gut beobachten). Zu viel zu sprechen kann Situationen manchmal auch zum Eskalieren bringen.
- Oft ist der Übergang von der Schule zum Nach-Hause-Kommen anspruchsvoll. Sie erinnern sich: Die Kinder waren während des Schultages vielen Reizen ausgesetzt und hatten kaum Pausen. Da kann die falsche Frage oder Anweisung den Gefühlsvulkan zum Ausbruch bringen. Geben Sie Ihrem Kind Zeit zum Ankommen und passen Sie Ihr Tempo dem Kind an. Kommen Sie über eine Berührung, ein Lächeln oder das Sagen des Namens mit Ihrem Kind in Kontakt. Geben Sie Ihrer Beziehung und dem Kind Raum, indem Sie das vom Kind Gesagte wiederholen oder das verbalisieren, was das Kind tut, denkt oder fühlt. Auf diese Weise fühlt sich Ihr Kind wahrgenommen und kann sich entspannen.
- Geben Sie dem Kind Orientierung und hilfreiche Strukturen, indem Sie Ihre Handlungen, Gefühle und Initiativen verbalisieren, das Kind profitiert dadurch grösstmöglich von Ihnen als Vorbild und Sozialmodell. Passen Sie Ihr Tempo dem Ihres Kindes an.
Hochsensible Kinder und Überreizung
Mia ist in der Schule von unterschiedlichsten Reizen umgeben. In der Klasse mit 25 Kindern kann es richtig laut werden. Dann hängen die verschiedensten Gerüche in der Luft, den im Hort am Mittagstisch findet sie besonders abstossend. Berührt werden mag Mia manchmal, Max ist ihr aber immer zu nah und andere Kinder auch. Mia spürt viel, auch die Gefühle ihrer Schulkollegen, ja sogar die der Lehrpersonen.
Einen Moment Ruhe und einen Rückzug zu finden, ist den ganzen Tag über, auch am Mittagstisch im Hort, nicht möglich. Erschöpft und überreizt kommt sie nach der Nachmittagsschule nach Hause.
Überreizung kann folgende Merkmale haben:
Aufgrund der Überstimulation wird Stress erzeugt. Oft ist die Überreizung der Sinne taktil oder visuell, die akustische Wahrnehmung oder ein Geruch/Geschmack kann zur Überreizung führen.
Diese kann sich wie folgt zeigen:
- Zeichen wie Blässe, Zittern, Schwitzen, rote Flecken, Schwindel, Beissen, Schreien, Weinen, Flüchten etc.,
- „Stalldrang“, schlagartiges Bedürfnis nach Ruhe, heftige Gefühlsausbrüche, psychosomatische Beschwerden, Unkonzentriertheit und Vergesslichkeit.
Generell benötigen hochsensible Kinder viel Ruhe und viele Pausen, um ihr Potenzial zu entfalten. Dabei helfen klare Strukturen und die Möglichkeit, sich zurückziehen zu können, auch während der Schulzeit. Es ist hilfreich, wenn Sie den Lehrpersonen wertfrei und nicht stigmatisierend Ihre Beobachtungen und hilfreichen Vorgehensweisen bezüglich Ihres Kindes schildern. Auf diesem Weg geben Sie ihnen Einblicke in die Bedürfnisse Ihres Kindes, sodass sie über mögliche Lösungen mit nachdenken können.
Wie können die Reize zu Hause vermindert werden?
- Akustisch: zu Hause möglichst keine weiteren „Lärmquellen“, wie Musik, teilweise auch Staubsauger; die Möglichkeit, sich zurückzuziehen, Pamir, Ohrenstöpsel; die Empfindlichkeit kann durch Stress gesteigert werden; Tonfall in der Stimme anpassen
- Visuell: wenig optische Reize, möglichst Ordnung mit geschlossenen Gestellen und Schränken
- Geschmack, Geruch: mit nur wenigen Gewürzen kochen; sichere „Werte“ einplanen; Unterzuckerung vorbeugen; Duft Tuch
- Taktil: auf feine Stoffe achten – in der Regel sind Naturmaterialien besser, wie z.B. feine Baumwolle, Bambusfaser, Seide; Schildchen und Knöpfe entfernen, evtl. umgekehrt tragen; manchmal ist auch der Schnitt zu eng.
Generell gilt: Weniger ist mehr!
Hochbegabung/ hohes Potenzial und Unterforderung
Sehr ähnlich wie die Merkmale bei einer Überreizung können die Stresssymptome bei einer Unterforderung sein. Dabei zeigt sich, dass sich einige Symptome überschneiden:
- Nachlassen der Lern- und Arbeitsmotivation
- Verlust von Selbstvertrauen und übermässige Anpassung
- Konzentrationsabnahme und Flüchtigkeitsfehler
- Keine Lernstrategien
- Verhaltensauffälligkeiten (z.B. Depression, aggressives Verhalten)
- Psychosomatische Symptome (z.B. Kopf- oder Bauchschmerzen)
- Leistungsdefizite in vielen Bereichen (Underachievement)
Auf jeden Fall ist es sinnvoll, sich mit der Lehrperson auszutauschen und sie um ihre Einschätzung zu bitten. Im Gespräch ist es wichtig, die Aufmerksamkeit auf die intellektuellen Bedürfnisse – oft komplex und schnell im Denken mit Neugierde an schwierigen Aufgabenstellungen – zu lenken. Falls sich im Gespräch mit der Schule keine Lösungen entwickeln lassen, sind weitere Anlaufstellen, beispielsweise der Kinderarzt bzw. die Kinderärztin (Entwicklungspädiater:in), Schulpsychologen:innen, Psychologen:innen, die auf Begabungsabklärungen spezialisiert sind, nächste Ansprechpersonen.
Falls es sich um eine Unterforderungsthematik handelt, ist eine passende Begabungsförderung zwingend. Diese kann auf Verdacht auch ohne Abklärung vorgenommen werden.
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